Hier eine Fortsetzung zum Text Stilistische Komfortzonen, den schon viele gelesen haben. Es geht diesmal um unseren Körper, der so vielen Frauen zu schaffen macht. Der Auslöser war eine Begegnung mit einer Frau und ihrer Kleiderwahl. "Ich kann bei den Oberarmen doch nichts Ärmelloses tragen". By the way brachte sie das Thema auch auf den Film "Embrace" und ein besseres Stichwort hatte sie mir gar nicht geben können. Be inspired!
"Bei diesen Oberarmen muss ich Ärmel tragen
Meine Waden sind zu dick- deshalb ziehe ich nur Hosen an
Ich habe keine Taille- deshalb ziehe ich weite Oberteile an
Mein Po ist zu dick- deshalb ziehe ich lange Oberteile an
Meine Beine sind zu kurz- deshalb muß ich Pumps tragen
Mein Mund ist zu schmal- ich kann doch keinen Lippenstift tragen
Ich bin Größe 42- ich habe nicht das Recht, mich in Kleidung zu inszenieren..."
All das habe ich gehört und vieles mehr.
Wir Frauen haben wirklich ein Problem. Wir sehen uns selbst mit zu kritischem Auge und definieren Problemzonen, wo selten welche sind. Das würden Männer nie machen. In meiner Ausbildung sagte meine Lehrerin: "Frauen haben hundert Problemzonen, Männer keine." Männer denken grundsätzlich viel seltener darüber nach, was bei ihnen nicht passen könnte. Viele Frauen hingegen scheinen permanent um dieses Thema zu kreisen. Was passt alles nicht an mir und wie kann ich es verbergen?
Es ist traurig, Frauen dabei zusehen zu müssen, wie sie sich selbst kleinmachen und viel zu viel Zeit, Energie und Aufmerksamkeit in ihre vermeintlichen Unzulänglichkeiten stecken. Es gibt weitaus wichtigeres im Leben- Länder regieren, eine Familie haben, einen tollen Job machen, sich selbst zu lieben und sich zu engagieren. Dabei bin ich eine von ihnen, da ich keineswegs zu den schmalen Damen gehöre sondern zu den Kurvigen. Was bewegt uns Frauen dazu, dauernd auf vermeintliche Mängel zu fokussieren, Problemzonen zu verstecken, den Bauch einzuziehen und möglichst vorteilhaft aussehen zu wollen. Die Antwort liegt auf der Hand:
Es ist das Körperbild, das unsere Gesellschaft, die Mode zum Ideal erhoben haben. Lange Beine, ein flacher Bauch, schmale Arme, dellenlose Haut, ein ebenmäßiges, junges Gesicht. Das zu haben, heißt erfolgreich zu sein und etwas geleistet zu haben. Dieses Bild ist so stark und hämmert auf uns permanent ein, in Großformat und Kleinformat, dass jeder Widerstand zwecklos ist. Selbst wenn wir selbst das Bild nicht im Kopf haben, unsere Umgebung hat es und weist uns subtil darauf hin.
Kennst du den Film "Embrace"? Wenn nicht, dann borge ihn Dir sofort aus, lade ihn herunter und sieh ihn Dir an. Es geht um Frau-Sein und sich selbst anzunehmen. Als ich ihn gesehen habe, all diese Frauen, die so normal und hübsch aussehen, oder Frauen, die ein schlimmes Schicksal erlitten haben und trotzdem selbstbewußt und glücklich sind- es gibt sehr wohl eine erfüllende Welt abseits von gesellschaftlicher Anpassung.
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credit: Embrace |
Ich denke, wir kennen alle diesen Reflex, schon in vorauseilendem Gehorsam quasi als Selbstzensur nur auf jene Formen und Farben zu schauen, die sich mit unserem mangelhaften
Körper vereinbaren lassen. Und alle anderen beiseite zu lassen. Auch Stilberaterinnen sprechen in ihrer Arbeit davon, "Schwächen zu verstecken und Stärken zu betonen", eine Formulierung,
die mich immer sehr gestört hat. Es geht beim Finden seines eigenen Ausdrucks um viel mehr als um so einfache Rechnungen.
Gehen wir dazu über, diesem Übersystem eines auszuwischen und uns auf neue Füße zu stellen. Und auszusteigen aus dem Zug, der niemanden außer der Schlankheitsindustrie glücklich macht. Ich stelle hier meine Thesen in Echtzeit vor, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, so wie ich an die Sache herangehen würde, vielleicht werden sie mehr im Lauf der Zeit, vielleicht weniger- wenn mir wieder eine einfällt, werde ich sie dazu notieren. Wenn Dir wichtige Punkte einfallen, die zu diesem Wegweiser passen, nur her damit!
Körpergrenzen im Kopf und wie frau sie überwinden kann
1. Akzeptieren, was ist
2. Mein Körper, mein Wesen sind meine Heimat
3. Ich bin mein eigener Bezugspunkt
4. Ich trage, was mir entspricht
5. Ich lenke den Blick und inszeniere mich mit Kleidung
ad 1: in einem Stilberatungsbuch habe ich einen gescheiten Satz gelesen: "Du hast einen großen Hintern? Akzeptiere ihn, denn er wird immer sichtbar sein." Egal was wir
anstellen wollen, unser Körper bleibt sichtbar. Und es ist sinnvoll, sich mit ihm zu versöhnen. Ob es zu starke Oberarme, zu dicke Schenkel, kurze Beine sind, jetzt ist die Zeit dafür, sie
anzunehmen und zu umarmen. Und es geht erst einmal darum, das "zu" zu streichen und Vergleiche zu lassen. Der Oberarm ist erst einmal stark, der Po groß und nicht mehr. Kleidung kann ihn hübsch
verpacken, doch aus einer Größe 44 wird keine 38. Das ist aber auch nicht das Ziel der Sache.
ad 2: der Körper wird durch das tägliche Tun definiert- wer viel vor dem Laptop sitzt und keine Bewegung macht, wer sich nur mit dem Auto fortbewegt, kann nicht erwarten, einen guten Muskeltonus und eine gute Kondition zu besitzen. Wer das tun kann, was er gerne tut, laufen, spazieren, lesen, tanzen, Liegestütze machen und er fühlt sich wohl dabei, wer keine aktute Atemnot bekommt, wenn er eine Anhöhe hinaufsteigt oder in den zweiten Stock, der ist halbwegs fit. Wer Gemüse liebt und frisches Essen und sich nicht nur von Süßem ernährt, hat auch in diesem Punkt schon einen wesentlichen Schritt zu mehr Wohlgefühl getan. Ob man nun Größe 36 oder 42 trägt, ist egal.
ad 3: ich fühle mich wohl in meinem Körper, ich gefalle mir. Ich bin mein eigener Bezugspunkt- kein 1,80 großes Model, kein vorgesetztes Idealbild. Ich bin eine Frau und ich lebe die Vielfalt, wie eine Frau aussehen kann, aus. Ich vergleiche mich nicht. Und Punkt.
ad 4: jede von uns entwickelt ihren Stil, manche bewußt, andere unbewußt.
Was wäre, wenn ich das trage, was mir entspricht, was ich mag? Ich bin muskulös-sportlich und liebe feminine Kleider? Warum nicht. Ich bin kurvig und mag maskuline Mode? Auch das geht. Rot bei Größe 44? Die Zeit von Sack und Asche dürfen der Vergangenheit angehören. Noch einmal: egal, was wir machen, unser Körper ist sichtbar. Und er entspricht uns, er ist kein Ornament sondern unser Instrument, mit dem wir alles tun können, was wir wollen. Lasse deine kritische Stimme im Kopf nicht zu Wort kommen sondern höre der liebevollen Stimme zu. Und dann setzt Du den Stil um. Denn-du bestimmst selbst, wie du als Frau, als Mensch aussehen kannst. Hilfestellung und Anregung gibt es bei mir, auch in Modemagazinen.
ad 5: ich lenke den Blick, wohin ich will. Der eigene Bezugspunkt zu sein bedeutet unabhängig zu sein. Es bedeutet jedoch nicht, auf alle Vorstellungen zu pfeifen und sich im permanenten Gegensatz zur Außenwelt zu befinden. Auch haben die wenigsten vor, jetzt betont hässlich und unansehnlich zu sein. Dies erzeugt viel Spannung und Ablehnung.
Wir nutzen die Welt der Mode und lenken den Blick, wohin wir wollen. Die Oberarme sind muskulös aber in umspielender Viskose sehen sie sanfter aus. Mein Gesicht ist unregelmäßig- mit einer unregelmäßig gemusterten Brille greife ich das auf und harmonisiere den Ausdruck. Mein Mund ist schief und ich liebe roten Lippenstift? Ich trage ihn trotzdem auf und traue mich, eine unverwechselbare Persönlichkeit mit einem speziellen Markenzeichen zu sein. Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Kleider sind echte Freunde und ein guter Style macht das Leben auf jeden Fall bunter und lebendiger.
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Mit Kleidung umzugehen, mit Farben und Formen will gelernt sein. Das ist mein täglich Brot. Doch grundsätzlich geht es einmal darum, die Körpergrenze zu verlassen, die Bilder im Kopf, wie eine Frau immer auszusehen hat. Und dann steht einem die Welt offen.
Ich wünsche Dir und mir noch viel Freude am Sich-Kennenlernen und Umarmen und wenn Du Deinen eigenen Bezugspunkt geschaffen hast, lasse es mich wissen. Ich poste gerne Deine Erfahrungen, denn sie können Inspiration sein für andere Frauen